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Allgemein

Bildungsstandards im Fach Geographie für die Allgemeine Hochschulreife

By 23. September 2024No Comments

Ein paar kritische Anmerkungen zum Basiskonzept „Macht“

Dieses Basiskonzept greift einen sehr fragwürdigen Raumbegriff auf, denn dahinter verbirgt sich die Perspektive des (geographischen) Raumes als Teil diskursiver Machtbeziehungen. Damit halten die dunkelsten Kapitel der poststrukturalistischen Sozialgeographie (in der Räume als Elemente diskursiver Formationen untersucht werden) Einzug in die Schulgeographie! „In dieser Perspektive sind Diskurse an der Herstellung der sozialen Wirklichkeit beteiligt, indem sie bestimmte Positionen (z. B. Aussagen, Einstellungen, Werte) entweder hegemonial machen oder marginalisieren“ (Helbrecht, I: Sozialgeographie und soziale Ungleichheit – eine Einführung. In: Schneider-Sliwa, R. et al. [Hg.]: Humangeographie. Braunschweig: Westermann, 2021. S. 241).

Schlimmer noch: Hinter diesem Basiskonzept, v. a. hinter dem Aspekt der „raumbezogenen Deutungsmacht“, versteckt sich eine raumbezogene Diskursanalyse! Nach Foucault bilden Diskurse systematisch die Gegenstände, von denen sie sprechen. Danach zeigt sich das Selbstverständliche, Normale und Natürliche als gesellschaftlich produziert und als historisch kontingent (d. h. als veränderlich bis zufällig).

Mit gutem Grund findet die poststrukturalistische Diskursanalyse als didaktisches Konzept im schulischen Bildungswesen hierzulande keinen Niederschlag, weder im Fach Politik/Sozialkunde noch im Fach Geschichte, weil sie dem Prinzip des herrschaftsfreien Diskurses (Habermas) und damit der schulischen Demokratiebildung diametral entgegensteht (vgl. KMK-Dokument „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018. S. 4f.). Kurz: Das geographische Basiskonzept „Macht“ ist ein Irrweg, der demokratische Bildung nur vortäuscht.

Ein weiteres Problem: Diskurse können schnell in Dispositive (Foucault) übergehen. Dispositive gehen über das Sprachliche der Diskurse hinaus und sind weiterreichende, sozusagen noch effektvollere Herrschaftsinstrumente: Verbindungen aus Diskursen, Praktiken und Strategien, um Überzeugungen hervorzubringen und zu regulieren. Die Bedeutung der Dispositive fasst Foucault dergestalt zusammen: „Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit: d. h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht“ (Foucault, M: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag, 1978. S. 51). In diesem Sinne etabliert das Basiskonzept „Macht“ unter dem Aspekt der raumbezogenen Deutungsmacht ein „geographisches Framing“, etwa wenn im Begleitdokument zu den Bildungsstandards von „neoimperiale[n] Tendenzen in der Geopolitik“ gesprochen wird, um das Basiskonzept „Macht“ näher zu erläutern (Mehren, R. et al.: Die neuen Bildungsstandards Geographie für die Sekundarstufe II. Einblicke in die Überlegungen bei der Entwicklung anhand von 20 Fragen & Antworten. Köln: DGfG, 2024. S. 17). Mit der Veröffentlichung der Bildungsstandards für die Oberstufe bräuchten wir streng genommen einen „Beutelsbacher Konsens“ für unser Fach Erdkunde/Geographie, um unsere Schülerinnen und Schüler vor dem Basiskonzept „Macht“ zu schützen! Andernfalls würden wir uns der politischen Indoktrination bzw. Manipulation an unseren Schülerinnen und Schülern schuldig machen. Wollen wir das?

Frank Gellert

Fachberater für Erdkunde/Geographie
Regionales Landesamt für Schule und Bildung
Braunschweig